Die Digitalisierung nicht verfügbarer Werke

Für die Digitalisierung und Online-Zugänglichmachung urheberrechtlich geschützter Materialien ist prinzipiell die Zustimmung des/der Urheber*in oder Anderer (z.B. Verlage oder Verwertungsgesellschaften), denen Urheber*innen die Rechte zur Unterlizenzierung eingeräumt hat, erforderlich. In besonderen Situationen, deren Voraussetzungen gesetzlich definiert sind, ist diese Erlaubnis nicht erforderlich. Dazu gehören die Fälle der „nicht verfügbaren“ und der „verwaisten“ Werke.

Nicht verfügbare Werke

Als „nicht verfügbare Werke“ können Werke von Kulturerbe-Einrichtungen auch ohne Erlaubnis der/des Urheber*in/Rechteinhaber*in digitalisiert und ins Netz gestellt werden, die ansonsten nicht (mehr) zu bekommen sind. Geregelt ist das in § 52 bis § 52e des Verwertungsgesellschaften-Gesetzes (VGG) und in § 61d bis § 61g des Urheberrechtsgesetzes (UrhG).

Um ein urheberrechtlich geschütztes Werk nach diesen Regeln nutzen zu dürfen, muss es sich im Bestand der betreffenden Kulturerbe-Einrichtung befinden, es darf „nicht verfügbar“ sein, die Einrichtung muss das Werk im „Out-of-Commerce“-Portal der EUIPO (Europäisches Amt für Geistiges Eigentum) registriert, und sechs Monate ab der Registrierung abgewartet haben, ob ein Widerspruch eines/einer Rechteinhaber*in oder Urheber*in erfolgt.

Wenn eine Verwertungsgesellschaft „repräsentativ“ für die betreffenden Gegenstände und Rechte ist, erteilt diese eine Lizenz für die Nutzung und übernimmt die Eintragung im EUIPO-Register.

Wenn es keine repräsentative Verwertungsgesellschaft gibt, braucht die Einrichtung keine Lizenz.

Bei unveröffentlichten Werken (z.B.  Archivbestände/ Nachlass-Materialien) sind Persönlichkeitsrechte zu beachten. Regelmäßig ist die Nutzung aber nach Ablauf der einschlägigen archivrechtlichen Pflichten erlaubt.

Der passende Rechtehinweis aus den Rechteangaben der DDB für „nicht verfügbare Werke“ ist Rechte vorbehalten – Freier Zugang. Die bis 2021 bestehende Erlaubnis zur Digitalisierung und Online-Nutzung „Vergriffener“ Werke wurde vollständig durch die Regeln zu „Nicht Verfügbaren“ Werken ersetzt.

Die Voraussetzungen im Einzelnen:

Werk im Bestand einer Kulturerbe-Einrichtung (KEE):

  • Erläuterung: Das Exemplar muss sich dauerhaft in der Sammlung dieser Einrichtung befinden, als Eigentum bzw. dauerhafter Besitz an Werkexemplaren. Beispiele: Eigentumsübertragung, Lizenzvereinbarungen, Beispiele: Eigentumsübertragung, Lizenzvereinbarungen, Pflichtexemplar- oder Dauerleihgaberegelungen
  • Wo geregelt ? § 52a Abs.1 Nr.3 VGG; EU-rechtliche Grundlage: DSM-Richtlinie, Art. 8 Abs.1 und Erwägungsgrund 29

Feststellung, dass das Werk nicht verfügbar ist:

  • Erläuterung: Das Werk wird der Allgemeinheit auf keinem üblichen Vertriebsweg in einer vollständigen Fassung angeboten. Die Verfügbarkeit von Adaptionen, einschließlich anderer Sprachfassungen oder audiovisueller Adaptionen eines literarischen Werks, ist kein Hindernis. Die KEE muss mit vertretbarem Aufwand, aber ohne Erfolg, versucht haben, o.g. Angebote zu ermitteln. „Nicht verfügbar“ sind auch Werke, die nicht für den Handel bestimmt waren und  bei denen auch keine konkreten Anhaltspunkte für eine spätere kommerzielle oder anderweitige Verfügbarkeit für die Allgemeinheit bestehen.
  • Wo geregelt ? § 52b Abs.1 und 2 VGG§ 2 NvWV; EU-rechtliche Grundlage: DSM-Richtlinie, Art. 8 Abs.1 und Erwägungsgrund 37
  • Zusätzlich bei verlegten Schriftwerken: Lizenzierung erst 30 Jahre nach letztmaliger Veröffentlichung, § 52b Absatz 3 VGG

Bei bisher unveröffentlichten Werken: Ist der Eingriff in das Urheberpersönlichkeitsrecht gerechtfertigt ?

  • Ja, wenn Schutzfristen des § 11 Bundesarchivgesetz abgelaufen (widerlegliche Vermutung)
  • Die Vermutung ist widerlegt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Urheber von einer Veröffentlichung des Werkes absehen wollte. Ausschlussgrund: Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß Veröffentlichung gegen den Willen des Urhebers erfolgen würde (§ 3 NvWV)

Repräsentativität der Verwertungsgesellschaft

  • Eine Verwertungsgesellschaft  (VG) ist repräsentativ, wenn sie für eine ausreichend große Zahl von Rechtsinhabern Rechte, die Gegenstand der kollektiven Lizenz sein sollen, auf vertraglicher Grundlage wahrnimmt (§ 52a Abs.1 Nr.1, § 51b VGG).
  • Schriftwerke: VG Wort nimmt neben Vergütungsansprüchen regelmäßig Nutzungsrechte zur Online – Nutzung an Schriftwerken wahr; allerdings betrifft das in der Praxis nur Werke, die zur Veröffentlichung bestimmt sind (Satzung der VG Wort, § 3)
  • zu den Werken, die dem Wahrnehmungsbereich der VG Bild Kunst zuzuordnen sind, gehören die der sog. Berufsgruppe I, den Bildenden Künstler*innen (u.a. Maler*innen, Bildhauer*innen, Architekt*innen) und Berufsgruppe II (z. B. Fotograf*innen, Bildjournalist*innen, Grafik-Designer*innen, Foto-Designer*innen, Illustrator*innen, Karikaturist*innen, Pressezeichner*innen). Inwieweit die VG Bild Kunst auch für solche Werke repräsentativ ist, die nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren und von Privatpersonen stammen (z.B. in Nachlässen aus Archiv-Bestand), ist nicht ganz klar.

Registrierung im EUIPO-Portal durch VG 6 Monate vor Beginn der Lizenzierung

Informationen sollen so präzise sein, dass ein Rechtsinhaber erkennen kann, ob sein Werk von der beabsichtigten Zugänglichmachung erfasst ist. Soweit möglich, sind folgende Informationen anzugeben, § 52a Abs.1 Nr.4 VGG / § 1 NvWV:

  • die Werkart
  • der Werktitel oder eine Beschreibung des Werkes, wenn der Titel nicht bekannt ist
  • der oder die (Mit-) Urheber
  • sonstige Rechtsinhaber und
  • bei veröffentlichten Werken das Jahr und der Ort der Veröffentlichung

- In der Regel nicht gesondert aufzuführen sind Werke, die

  • in einem anderen Werk eingebettet sind, wie etwa Abbildungen in einem Buch oder Bildband
  • zu Sammelwerken oder mehrbändigen Werken gehören
  • in einer Zeitung oder Zeitschrift enthalten sind
  • sich in einer Archivalieneinheit oder einer ähnlichen Erfassungseinheit einer Kulturerbe-Einrichtung befinden

- Wenn keine repräsentative Verwertungsgesellschaft vorhanden ist, gilt die gesetzliche Erlaubnis nach § 61d UrhG (ohne Lizenz einer Verwertungsgesellschaft): Die Kulturerbe-Einrichtung muss selbst die Eintragung im EUIPO-Register vornehmen, § 61d UrhG.

Nach der Registrierung im EUIPO-Portal: Ablauf einer Frist von 6 Monaten ohne Widerspruch des Rechteinhabers

Ohne repräsentative Verwertungsgesellschaft: die Kulturerbe-Einrichtung ist selbst zur Information über Widerspruchrecht im EUIPO-Portal verpflichtet, § 61d Abs.3 UrhG.

Wenn die o.g. Voraussetzungen erfüllt sind: (online-) Nutzung der nicht verfügbaren Werke durch Kulturerbe-Einrichtung ist erlaubt.

Was ergibt sich aus dieser Lizenz / gesetzlichen Erlaubnis?

  • Mit Lizenz einer Verwertungsgesellschaft (§ 52a Abs.1 Nr.2 VGG) : Erlaubnis zur Vervielfältigung, Verbreitung, öffentlichen Zugänglichmachung und sonstigen öffentlichen Wiedergabe zu nicht kommerziellen Zwecken.
  • Ohne repräsentative Verwertungsgesellschaft (§ 61d Abs.1 UrhG) : Gesetzliche Erlaubnis zur Vervielfältigung und zum Ins-Netz-Stellen (Öffentliche Zugänglichmachung) für nicht kommerzielle Zwecke, ohne Lizenz einer Verwertungsgesellschaft.

Nutzungserlaubnis nur für Kulturerbe-Einrichtungen

Nutzen dürfen: Bibliotheken und Museen, sofern sie öffentlich zugänglich sind, sowie Archive und Einrichtungen im Bereich des Film- oder Tonerbes (§ 60d Abs.3 Nr.1).

Auf welchen Webseiten dürfen die Werke zugänglich gemacht werden ?

Nicht-kommerzielle Webseiten der Kulturerbe-Einrichtung, § 52a Abs.1 Nr.2 VGG; § 61d Abs.1 UrhG

Widerspruch des/der Rechtsinhaber gegenüber der EUIPO jederzeit möglich

Wirkung des Widerspruchs:

  • Mit repräsentativer Verwertungsgesellschaft (§ 52 Abs.2 VGG / § 4 NvWV) : EUIPO informiert Verwertungsgesellschaft über Widerspruch
    • Verwertungsgesellschaft prüft die Berechtigung des Widerspruchs
    • bei Berechtigung: Innerhalb von 1 Monat erlischt Lizenz zur Nutzung
    • Wenn die Prüfung der Berechtigung länger als 1 Monat dauert: Nutzungen sind spätestens nach 2 Monaten (vorläufig) einzustellen.
  • Ohne repräsentative Verwertungsgesellschaft (§ 61d Abs.2 UrhG / § 5 NvWV): EUIPO informiert die Kulturerbe-Einrichtung über Widerspruch
    • Die Kulturerbe-Einrichtung prüft Berechtigung des Widerspruchs
    • bei berechtigtem Widerspruch: Innerhalb von 1 Monat erlischt Erlaubnis zur Nutzung
    • Wenn die Prüfung der Berechtigung länger als 1 Monat dauert: Nutzungen sind spätestens nach 2 Monaten (vorläufig) einzustellen.

Spezialfragen

Ist Geoblocking erforderlich ?

Sollten Zugriffe auf die „Nicht Verfügbaren Werke“ nach Art. 8 der DSM-Richtlinie / §§ 52ff. VGG / 61d UrhG von außerhalb der EU / des EWR unterbunden werden ? Ja, denn die Richtlinie mit den darin vorgesehenen Erlaubnissen gilt nur für das Territorium der Mitgliedstaaten der EU und die übrigen Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), also Island, Norwegen und Liechtenstein. Abrufe aus anderen Staaten müssen von Webseitenbetreiber abgewiesen werden. Technisch ist es kein Problem, diese rechtliche Voraussetzung einzuhalten. Allerdings kann das „Geoblocking“ auch leicht durch VPN-Server, die den Zugriff aus dem zulässigen geografischen Bereich vortäuschen, umgangen werden. Das fällt aber nicht in den Verantwortungsbereich der betreibenden Einrichtung.  

 

Ausländische Werke

Wenn bei einer zu digitalisierenden Erfassungseinheit/Sammlung von Werken (das Gesetz spricht von „Werkreihen“) einzelne ausländische Werke dabei sind, kann die Sammlung trotzdem von der Verwertungsgesellschaft lizenziert werden, so lange sie prinzipiell „repräsentativ“ für die einzuräumenden Rechte ist (s.o.).

Wenn aber der überwiegende Teil der Rechteinhaber der Werke aus der Erfassungseinheit/Sammlung ihren Sitz im Ausland hat, muss die Verwertungsgesellschaft diese tatsächlich repräsentieren können (§ 52c VGG), z.B. über Gegenseitigkeitsverträge mit den jeweiligen ausländischen Verwertungsgesellschaften. Zwar ist in § 52c VGG von „Drittstaaten“ die Rede. Jedoch wird das auch für Werke aus EU bzw. EWR-Mitgliedstaaten gelten[1]. Diese Erläuterungen dürften vor allem für Werke gelten, die nicht schon einzeln erfasst sind. Da es sich dabei oft um bisher unveröffentlichtes Material handelt, stellt sich aber schon die Frage nach der „Repräsentativität“ der Verwertungsgesellschaft für Rechte an diesen Gegenständen.

Der Begriff der „Werkreihe“, der im § 52c VGG für die Erfassungseinheit/Sammlung verwendet wird, spielt wohl für veröffentlichte Bücher keine Rolle, weil diese ohnehin aufgrund der vorhandenen bibliografischer Daten einzeln lizenziert und in die EUIPO-Datenbank eingetragen werden.

Soweit keine Verwertungsgesellschaft für die Rechte an den jeweiligen überwiegend ausländischen Materialien repräsentativ ist, dürfen diese gar nicht genutzt werden, § 61d Abs.4 S.2 UrhG.

Quellen / Weitere Informationen:

Verwaiste Werke

Daneben steht noch die Erlaubnis zur Digitalisierung sog. „Verwaister“ Werke (§§ 61 ff. UrhG): Diese Regelung wurde schon vor den Regelungen über die „nicht verfügbaren“ Werken geschaffen, ebenfalls aufgrund einer EU-Richtlinie. Die Voraussetzungen haben sich jedoch nicht als praxisgerecht erwiesen. Fast alle Werke, die unter die „verwaisten“ Werke fallen würden, sind aber gleichzeitig auch im Sinne der o.g. Regeln „nicht verfügbar“, sodass es der Erfüllung der Voraussetzungen der „Verwaisten“ Werke“ regelmäßig nicht bedarf. Hinzu kommt, dass der Anwendungsbereich der Verwaisten Werke kleiner als der der „nicht verfügbaren“ ist: Er bezieht sich auf einen definierten Bereich von Werken (§ 61).

Voraussetzung für die Nutzung als Verwaistes Werk ist immer eine „Sorgfältige Suche“ nach Rechteinhabern, die nach § 61a UrhG (+ Anlage dazu) zu dokumentieren ist. Die Dokumentation ist dem DPMA zuzuleiten.

Der passende Rechtehinweis aus dem „Lizenzkorb“ für „Verwaiste Werke“ ist Verwaistes Werk